Diese Welt bestand schon in der Vergangenheit und wird auch ohne meine Anwesenheit in der Zukunft weiterbestehen. Mir ist es als Künstlerin wichtig, den Prozess der Wahrnehmung einer solchen Welt visuell darzustellen. Ich verfolge kontinuierlich dieses Thema – die Umgebung um mich herum; natürliche, soziale und kulturelle Dinge zu erfassen und zu zeigen. Die Umgebung ist eines der Elemente, aus denen die menschlichen Existenz komponiert ist, jedoch ergibt sich aus der Sicht jedes Betrachters ein anderer visueller Eindruck. Je nach Bewußtseinszustand und Ausstattung seines Inneren mit Erfahrungen – wie eine gewachsene Ansammlung von Pflanzen in einem Teich – wird der Betrachter seinen eigenen Weg erkennen. Meine Arbeiten sind im Prinzip gesammelte Landschaften, die meine persönliche Sicht der Dinge visualisieren.
Auf der Leinwand, nach der Grundierung, beginne ich den ersten Raum mit dem Aufkleben des Gewebebands zu definieren. Ich teile mir die Fläche in horizontale Streifen ein. Meistens fange ich am Ende der Leinwand an, manchmal auch in der Mitte. Dann male ich den ersten Streifen. Ich verwende Acrylfarbe, aber niemals fertige Farbtöne aus der Tube, sondern mische jeden Ton gezielt an. Je nach Intensität der Farben streiche ich drei, fünf, oder sieben Schichten auf eine Fläche. Diese Vorgehensweise ist für mich eine Art «Zeit der Reifung», eine Überschneidung von Raum und Zeit. Nach einem vollständigen Streifen erstelle ich mit der nächsten Fläche wieder einen neuen Farbraum, der vom vorhergehenden ausgeht. Ein Bild ist somit nicht komplett im Vorfeld planbar, da sich seine Farbigkeit quasi organisch entwickelt.
Jede dieser Farben ist an sich unabhängig und eigenständig. Ihre jeweiligen einzigartigen Eigenschaften sollen klar erkennbar bleiben. Die Komposition betont durch ihre konsequent horizontale Struktur die Gleichberechtigung der Farben. Jeder Farbstreifen hat eine bestimmte Breite, dabei folgt das Gesamtbild einem musikalischen Rhythmus und bildet eine spürbare poetische Resonanz. Dazwischen erscheinen als geplante Zufälle gebrochene Farbflächen. Die Inspirationen dafür kommen oft von Licht, von glitzernden Zweigen in schwarzem Wald, einer einzelnen Wolke in blauem Himmel – ein Stück imaginierter Natur. Jedoch lässt das Bild durch seine Uneindeutigkeit Raum für Phantasie. Jeder individuelle Betrachter konstruiert somit seine eigene Vorstellung – das Bild mit seinen Farbschichten bietet einfach einen ersten Ansatzpunkt.
Ich beginne mit einer intuitiv gewählten Farbe zu malen, basierend teils auf sehr persönlicher Erfahrung und teils auf Phantasie. In den letzten zwei Jahren meiner Arbeit versuche ich den Raum innerhalb einer Farbfläche zu aktivieren; mit zwei oder drei ineinander fließenden Farben in einer Fläche. Dabei entwickelt sich dieser Farbraum spontan, nicht geplant. Dagegen zieht der Rhythmus der scharfen horizontalen Linien – gebildet durch die aneinander stoßenden Farbflächen – das Ganze absichtlich in die Fläche, in die Zweidimensionalität. In der Nahsicht stehen die Linien haptisch aus dem Bild hervor, teilen und koordinieren es. In der Fernsicht hingegen schmilzt es optisch zu einem nahezu klassischen Landschaftsbild zusammen. Dadurch drücke ich die Diskrepanz zwischen der Welt vor meinen Augen und der Welt, wie ich sie erfahre und erkenne, aus.
Das Bild enthält Realität, Farbe und Tiefe; aber auch nicht existierenden Raum.
2011@Lee Kyong